Das Taubergießen liegt in „Nordamerika“

Das Taubergießen liegt in „Nordamerika“. Wer heute auf Google-Maps schaut, der findet „Taubergießen“ auf der Rheinmattbrücke verortet. Das mag richtig sein, aber ist auch sehr interessant. Nur wenige Meter von dieser Brücke befindet sich ein schlichtes Feldkreuz aus Holz. Dieses Kreuz steht in dem Gewann „Nordamerika“ oder auch in Rust kurz „Amerika“ genannt. Vor über 200 Jahren wanderten viele Ruster nach Amerika aus. Aber einige der Auswanderer erreichten ihr Ziel nie. Unterwegs fielen sie Betrügern in die Hände – und kehrten bettelarm zurück nach Rust. Im Gewann „Amerika“ erhielten sie neuen Boden, damit sie sich ernähren konnten. Ein Gebiet, dessen Name den Heimkehrern, die damals ihr neues Leben in Amerika nie beginnen konnten, gewidmet ist. Lange Jahre hielt sich in Rust die Mär, dass just an dieser Stelle die Ruster damals die Boote bestiegen und in Richtung Rhein abfuhren.

Eine Geschichte, die Karl-Heinz Debacher so nicht glauben konnte. Warum sollten die Ruster zum Dorf hinaus wandern, um in die Boote zu steigen? Schließlich führt die Elz, die mitten durch den Ort führt auch zum Rhein. Der ausgewiesene Historiker und Experte der Ruster Dorfgeschichte grub sich durch die Archive. Am Schluss seiner Recherchen war klar: Das Kreuz und der Name des Gewannes erinnern an die Ruster Auswanderer, die zurückkamen. Der Startpunkt der Reise war diese Stelle aber nicht.

Dauerregen löste eine Hungersnot aus

Warum wollten so viele Menschen damals die badische Heimat verlassen? Im Jahre 1816 folgte ein nass-kalter Sommer mit Dauerregen – 95 Regentage von Mai bis September. Es wird deshalb als das Jahr ohne Sommer bezeichnet und ist bis heute das kälteste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Im August setzte der Frost ein, der Rhein trat über die Ufer und überschwemmte weite Gebiete. Das Wasser vernichtete die noch ausstehende Ernte und verwüstete die Felder.

Erst 1920 fand man die Ursache des Katastrophen-Sommers: Der Vulkan Tambora auf der Insel Bali war im April 1815 mit immenser Wucht ausgebrochen. Die Staubteilchen wurden auf der Erde verteilt und verursachten im Jahr darauf den Schneesommer, wie er auch genannt wurde. Angesichts dieser großen Not verließen viele Menschen hoffnungslos die Heimat, zogen verführt durch Schwindler und verbrecherische Agenten in eine unbekannte Welt hinaus, vorwiegend nach Amerika. Die von Hunger und Elend gehetzten Leute verkauften ihr Hab und Gut um „eine Schnitz und eine Bohn“, verließen fluchtartig Rust und trieben einem trügerischen Schicksal entgegen. 16 000 bis 20 000 Badener sollen zur großen Reise aufgebrochen sein. Darunter waren mindesten 50 bis 60 Ruster, also rund 3,5 Prozent der damals 1600 Einwohner.

Viele starben auf der Reise, aber einige kamen bettelarm zurück

Vielen gelang das Wagnis. Zahllose starben unterwegs, aber einige kehrten wieder. Sie waren entweder schon auf der Reise betrogen worden oder waren in Amsterdam Gaunern in die Hände gefallen. Ihnen blieb nur der Weg zurück in die alte Heimat, wo sie als Bettler wieder ankamen. Vermutlich handelte es sich dabei mehr um einzelne Personen, als um Familien. Letztere kamen nicht so schnell zurück; manche brauchten Jahre, um ihre Heimat wieder zu erreichen. Die Regierung nahm sich ihrer an, indem sie ihnen die Orte bestimmte, in denen sie Halt machen, und die Zeit, die sie dort zubringen durften.

Als in Rust die Ausgewanderten wieder total verarmt ankamen, verteilte die Gemeinde ein Landstück am Rande der Gemarkung unter ihnen zur Urbarmachung und Bebauung. Deshalb trägt dieses Gewann bis heute den Namen „Amerika“. Manche Auswanderer waren vor dem Auszug in der Eile und bei der allgemeinen Geldknappheit nicht alle Liegenschaften losgeworden. Sie waren jetzt froh, diese „Rampen“ noch ihr Eigen nennen zu können. Das frühere Bürgerrecht aber wurde ihnen nicht wiedergegeben, wenn nicht der größte Teil der Gemeinde es ausdrücklich forderte. Es wurde ihnen nur die Stellung als Schutzgenosse eingeräumt und viele führten Jahrzehnte hindurch das Dasein armer Leute.

Bernhard Rein

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